Wenn Design lediglich Anreiz zum Konsum darstelle und Architektur und Stadtplanung die Formalisierung gegenwärtiger sozialer Trennungen sei, so müssten wir gemäss Adolfo Natalini von Superstudio(1) Design, Architektur und Stadtplanung ablehnen... solange bis alle gestalterischen Aktivitäten sich auf primäre menschliche Bedürfnisse richten. Bis zu diesem Zeitpunkt müsse Gestaltung verschwinden. Wir könnten ohne Architektur leben.
Ein halbes Jahrhundert nach dieser Diskussion und einer regelrechten Blüte des objekthaften Designs in der Architektur, flammen die Zweifel an der Nachhaltigkeit unseres Tuns und Lebensstils in allen Bereichen wieder auf. In der Architekturproduktion werden unter dem Leitmotiv der Suffizienz reduzierter Flächenverbrauch, Ressourcenschonung und flexible, nutzungsneutrale Typologien gefordert und Fragen der Gestaltung vermeintlich in den Hintergrund gedrängt. Doch beobachten wir beim Blick in Immobilienportale nicht ohnehin die immer gleichen Wohnwelten, die aus dem Bedürfnis nach Individualität mit den immer gleichen Dingen eines ausufernden Konsums ausgestattet werden? Welch Widerspruch. Die Absenz von Gestaltung führt also nicht zwingend zu einer Befreiung, sondern schafft vielmehr ein Vakuum, eine Leere, die von Mechanismen des Marktes nur allzu gerne gefüllt wird. Die Collage Supersurface: Happy Island von Superstudio und die photographische Arbeit Material World: A Global Family Portrait von Peter Menzel zeigen genau das: Der Mensch zurückgelassen in einer neutralisierten Welt mit seinen Konsumgütern.
Aber nach welchen menschlichen Bedürfnissen sollten wir uns stattdessen überhaupt richten? Wer sind die Bedürfnis-Treuhänder im Planungsprozess wenn die tatsächlichen Nutzerinnen und Nutzer noch gar nicht bekannt sind? Gibt es DIE Bedürfnisse DER Menschen überhaupt? Nach Abraham Maslow(2) gliedern sich menschliche Bedürfnisse grob in fünf voneinander abhängige Kategorien. Frei übersetzt sind dies physiologische Grundbedürfnisse, Sicherheit, Zugehörigkeit, Wertschätzung und Selbstverwirklichung. Die Grundbedürfnisse physiologischer und sicherheitsrelevanter Natur scheinen in den westlichen Gesellschaften weitestgehend befriedigt. Durch Normen und Standards wurden diese in den Planungsprozessen verankert. Aber reicht die funktionalistische Erfüllung dieser Grundbedürfnisse um kostengünstigen Wohnungsbau für Menschen in prekären Situation bereitzustellen? Die Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, Wertschätzung und Selbstverwirklichung scheinen heute gleichwertig relevant, unabhängig der sozialen Schicht! Wie integriert man diese dann in die gestaltende Praxis?
Lucius Burckhardt gibt uns in Die vermeintlichen Bedürfnisse der Leute(3) einen Hinweis, wie wir uns insbesondere im kostengünstigen Wohnungsbau einer Antwort nähern könnten, ohne die Diskussion des Existenzminimums erneut führen zu müssen: Um den «Defekt» einer Wohnung argumentativ zu überbrücken, benötige der Mensch «Anreize für eine positive Sprachregelung». Nur so könne er sich mit seiner Wohnsituation identifizieren. Der freiwillige Verzicht gelingt also nur durch ein Hinzufügen von spezifischer Qualität. Die architektonische Form, räumliche Konzepte und materielle Präsenz sind die Mittel unserer Disziplin, um spezifische Qualitäten herauszuarbeiten oder bestehende zu verstärken. Setzen wir sie ein, um solch «höhere» Bedürfnisse zu befriedigen –oder gar neue auszulösen? Besteht in unserem realen Umfeld eine ähnlich innige Relation zwischen architektonischer Form, deren Bedeutung und der menschlichen Handlung, wie sie in den Arbeiten Absalons(4) zum Ausdruck kommt?
Für unsere eigene Arbeit an der Wohnsiedlung Guggach III für die Stiftung Einfach Wohnen interessieren uns diese fruchtbaren Kontraste zwischen dem Typischen und dem explizit Spezifischen, dem Standard und dem individuellen Verlangen, zwischen Verzicht und Reichtum. Das Besondere, Spezifische oder sogar Atypische muss dabei mehrdeutig, mehrfachlesbar und damit offen gegenüber Nutzenden und Betrachtenden bleiben. Die Verfremdung eines architektonischen Elements oder Raumes provoziert die Revision der etablierten Wahrnehmung durch jeden, jede Einzelne und ermöglicht dadurch eine unerwartete Aneignung. Diese individuellen Handlungen bergen das Potential, das Objekt oder den Raum über die eigenen Bedürfnisse weiter zu prägen und somit die persönliche Identifikation mit dem Wohnumfeld zu fördern. Bewohnende vermögen die Architektur nach der eigenen Vorstellung zu komplettieren. Die Hierarchisierung der eingesetzten Mittel nach Ökonomie und Ökologie folgt einer projekteigenen Logik: Gewisse Defizite der Wohnung, wie die minimalen Wohnflächen und rohen Oberflächen, werden gegenüber Momenten des Überflusses ausgespielt. Die funktionalen Bedürfnisse werden auf einfache Weise erfüllt um so im gleichen Masse Ressourcen zu schonen sowie an gezielten Orten kontrolliert Investitionen zu tätigen. Momente des Reichtums geben so Anhaltspunkte für die Aufwertung des eigenen Wohnumfeldes.
Swiss Art Awards 2020, Kategorie Architektur, Finalist
(1) A. Natalini, SUPERSTUDIO, AA School of Architecture lecture, London, 1971 aus Publikation: Peter Lang, William Menking (Hrsg.), Superstudio-Life Without Objects, S. 20, Skira Verlag, Milano, 2003
(2) Abraham Maslow, Motivation und Persönlichkeit, Rowohlt Verlag (15.Auflage 2018), New York, 1970
(3) Lucius Burckhart, Der kleinstmögliche Eingriff, Martin Schmitz Verlag, Berlin , 2013
(4) Absalon, exhibition catalogue Tel Aviv Museum of Art, Tel Aviv, 1992